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Blinde müssen Götter sein

Erschienen in Vollzeichen - Die Zeitschrift für Braille-Schrift-Leser, August 2014

Manuela Mautri gewidmet

Bericht einer außerirdischen Forschungsexpedition nach einem Besuch auf der Erde

Bei unserem Besuch im Sonnensystem Q4-G73-SS528 fanden wir heraus, dass der Planet mit der Kartenbezeichnung P3 von einer uns sehr artverwandten Spezies bewohnt wird. überhaupt muss die bio- und geologische Entwicklung des Planeten ähnlich der unseren verlaufen sein. Die einzigen Unterschiede zwischen unserer Rasse und den intelligenten Bewohnern von P3 sind, dass einzelne Gruppen von ihnen sich noch auf gravierend unterschiedlichen Entwicklungsstufen befinden, dass es viele unterschiedliche Sprachen gibt, dass sie ihrer Hautfarbe eine uns unbekannt gebliebene Bedeutung beimessen und dass sie durchschnittlich nur 3 Viertel unserer Körpergröße erreichen. Die höchst entwickelten Volksgruppen sind unserem technischen Standard schon recht nahe. Wir rechnen damit, dass sie in 150 bis 200 Sonnenumkreisungen unsere jetzige Entwicklungsstufe erreichen werden.

Was uns befremdet hat, ist die seltsame Götterverehrung der Bewohner von P3. Die Götter unterscheiden sich zunächst kaum von den gewöhnlichen Bewohnern des Planeten. Sie bewegen sich teilweise anders und führen, wenn sie sich im Straßenbild zeigen einen weißen Stab mit sich, den sie auf rhythmische Weise vor sich herschwenken. Es muss sich dabei um eine Art Zepter handeln. Einige der Götter tragen gelb leuchtende Binden mit 3 schwarzen Punkten am Arm. Das lässt uns vermuten, dass es eine Art Hierarchie unter ihnen gibt. Wahrscheinlich gehören diese Götter einer bestimmten Kaste an, was sie durch das Tragen der Binde mit den Punkten zum Ausdruck bringen. Weiterhin zeigen einige Götter sich stehts in Begleitung von Tieren, mit denen sie offenbar kommunizieren können. Diese Götter tragen allerdings den mysteriösen Stab nicht. Aus einem uns unerklärlichen Grund haben die Götter des Blauen Planeten kein Sehvermögen. Einige besitzen sogar gläserne Augen, die sie herausnehmen können. Dies scheint ein furchterregendes Ritual zu sein, da es die umstehenden Anbeter in Angst und Schrecken versetzt.

Zu der Erkenntnis, dass es sich um Götter handelt, sind wir durch das Verhalten der gewöhnlichen P3-Bewohner gelangt. Wenn ihnen einer der Götter begegnet, laufen sie zu ihm hin, um ihn anzufassen. Wahrscheinlich versprechen sie sich eine segensreiche oder gar heilende Wirkung davon. Es kann passieren, dass ein Gott sich über dieses impertinente Verhalten lautstark empört. In solch einem Fall bleibt der Frevler meist betroffen stehen und sieht dem Gott lange traurig nach. Oft stürmen mehrere Personen auf einen der Götter ein und reißen sich förmlich darum, ihn anfassen zu dürfen. Auch wird den Göttern, wo immer sie sich zeigen, respektvoll Platz gemacht, wogegen man mit seinesgleichen im Allgemeinen recht rücksichtslos umgeht. Viele P3-Bewohner sehen den Göttern auch nur gebannt und andächtig nach. Es kommt vor, dass der eine oder andere dabei vor Ergriffenheit in Tränen ausbricht.

Wir fanden es erstaunlich, dass die Götter am ganz normalen Alltagsleben von P3 teilnehmen. Außer den oben genannten Unterschieden im Auftreten und der Verhaltensform sind uns keine nennenswerten Besonderheiten aufgefallen. Auch war nicht herauszufinden, was die Götter vermögen und über welche Macht sie verfügen. Wir können lediglich aus unseren Beobachtungen schlussfolgern.

Es ist anzunehmen, dass die Götter die ersten Bewohner des Planeten waren und sich die gewöhnlichen P3-Bewohner zum Ebenbild geschaffen haben, um von ihnen bedient zu werden. Allerdings haben die Götter, als sie ihren Kreaturen die Gabe des Sehens verliehen, nicht gewusst, welches Unheil sie damit über sich bringen würden. Wahrscheinlich wollten sie selbst nicht sehen, um die Vielseitigkeit ihrer Wahrnehmung nicht durch diesen dominanten Sinn einzuschränken. Andererseits wussten sie jedoch auch um den Vorteil des Sehvermögens und statteten ihre Geschöpfe damit aus, um sich leistungsfähige Diener zu schaffen. Einige der Götter, die damit nicht einverstanden waren, zähmten sich gut sehende Vierbeiner. Für diese Abtrünnigkeit nahm man ihnen allerdings das Privileg, den Ritenstab tragen zu dürfen. Ihre Befürchtungen jedoch bewahrheiteten sich. Die Wirkung des Sehsinnes auf die gewöhnlichen P3-Bewohner war verheerend. Sie berauschten sich an dieser Gabe, mit der sie nicht umzugehen wussten. Die feineren Sinne verkümmerten und das Sehen wurde verherrlicht. Der Grund weswegen die Götter heute noch angebetet werden, liegt vermutlich darin, dass im Unterbewusstsein der P3-Bewohner immer noch eine weit zurückreichende Ehrfurcht vor den ursprünglichen Herrschern des Planeten verwurzelt ist. Im Zuge einer allgemeinen Rückbesinnung auf spirituelle Werte gewinnen außerdem die einzig den Göttern gebliebenen edleren Sinne wieder an Bedeutung.

Wir empfehlen, den Planeten zu Forschungszwecken unter Beobachtung zu behalten. In der nördlichen Hemisphäre gibt es in der Nähe von bewohntem Gebiet Kornfelder, die sich hervorragend für die Landung eignen.

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